CABUWAZI
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Zirkuskultur, die stark macht

Zirkuskultur, die stark macht: Wirkung und Entwicklung von Kinder- und Jugendzirkussen und der Zirkuspädagogik

In diesem Blogartikel werfen wir einen Blick auf den Beitrag von Gisela Winkler aus der Jubiläumsbroschüre Gemeinsam wachsen, die anlässlich des 30-jährigen Bestehens von Zirkus CABUWAZI veröffentlicht wurde.

Zirkusmachen ist großartig!

Und das Beste daran ist, dass jede:r mitmachen kann, ohne besondere Voraussetzungen mitbringen zu müssen. Der Zugang ist niedrigschwellig – alle können etwas! Durch beharrliches Üben können wirkliche Höchstleistungen erreicht werden, welche die Zuschauer:innen beeindrucken. Die Vielfalt des Zirkus – neben den artistischen Disziplinen gehören auch Musik, Tanz, Theater, Kostüm- und Bühnenbild bis hin zur Licht- und Tontechnik und Werbung hinzu – hilft jedem und jeder etwas zu finden, was interessiert und attraktiv ist, wo man sich beweisen und Erfolgserlebnisse verbuchen kann. So ist es kein Wunder, dass Kinder- und Jugendzirkusse überall großen Zulauf haben und deren gegenwärtige Zahl unüberschaubar ist. Sie existieren in den unterschiedlichsten Größen und Formen: von eigenständigen Vereinen, in der Trägerschaft soziokultureller, sportlicher und kirchlicher Einrichtungen bis hin zu Schulzirkussen.

Die Entwicklung der Kinderzirkusbewegung

Die Entwicklung der Kinderzirkusbewegung begann 1949 mit dem Zirkus Elleboog in Amsterdam, der die Nachkriegskinder von der Straße holte und mit ihnen artistische Kunststücke übte. Aus der Kinderrepublik Benposta in Spanien, die auf der Straße lebenden Kindern eine Heimstatt bot, ging in den sechziger Jahren der Circo Muchachos hervor, der international berühmt wurde. Zu einer weltweiten Bewegung wurde der Kinderzirkus dann in den achtziger Jahren, als Pädagog:innen, Erzieher:innen und Sozialpädagog:innen die pädagogischen und sozialen Möglichkeiten dieses künstlerischen Mediums entdeckten, aber auch als durch den Cirque Nouveau und innovativen Zirkusunternehmen wie Roncalli die Zirkuskunst von Künstler:innen verschiedener Genres „wiederentdeckt“ und in gewissem Maße aufgewertet wurden. Die künstlerische Kreativität in der Gestaltung von Darbietungen und im Erfinden von Geschichten, erzählt durch artistische Mittel, die Verbindung von Akrobatik, Musik, Tanz, Theater sowie die Einbeziehung sportlicher Elemente und von Street Art haben den Kinder- und Jugendzirkus in kurzer Zeit in vielen Ländern zu einem ganz wesentlichen Bestandteil der Jugendkultur gemacht. Der Kinderzirkus mit seinen vielfältigen Möglichkeiten und Aspekten erweist sich als ein besonders geeignetes Medium für die Kulturelle Bildung.

Der Kinder- und Jugendzirkus – ein vielfältiger Lernort

Zirkus ist ein Lernort par excellence – durch seine Vielfalt ist es jedem und jeder möglich, etwas für sich Passendes und Befriedigendes zu finden, in dem man sich ausprobieren und an dem man wachsen kann. Wie beim professionellen ist auch beim Kinderzirkus ein wesentliches Moment die Grenzüberschreitung: von physischen und psychischen Grenzen, von sozialen, sprachlichen und kulturellen Unterschieden. Die sozialen Aspekte spielen seit seinen Anfängen eine große Rolle. Zirkusmachen ist nur im Team möglich, es braucht sowohl Vertrauen
in die eigenen Fähigkeiten als auch in die der anderen Mitartist:innen. Die Teilnehmenden erfahren prägende Gemeinschaftserlebnisse, übernehmen Verantwortung für das gemeinsame Projekt, entwickeln ihre Individualität und ein neues Lernverhalten. Prozessorientiertes Denken und Handeln, Teamfähigkeit, Flexibilität und Kreativität, Selbstmotivation und Selbstvertrauen sind sogenannte Schlüsselkompetenzen, die für die gesellschaftliche Entwicklung notwendig sind.

Die Zirkuspädagogik

Zirkusmachen wirkt per se pädagogisch: Die Kinder und Jugendlichen erkennen schnell, dass es Beharrlichkeit und auch mal Selbstüberwindung, Disziplin und Arbeit im Team braucht, damit eine Darbietung und schließlich eine Show zustande kommen. Die Zirkuspädagogik als relativ junge Form der Freizeit- und Kunstpädagogik nutzt die Möglichkeiten des Zirkus, um pädagogische Prozesse und Ziele durch Zirkustraining anzuregen und zu erreichen. Durch ihre große Vielfalt kann sie die Persönlichkeitsentwicklung der Heranwachsenden in vielen Bereichen fördern und so zum Beispiel das Erreichen schulischer Lernziele auf spielerische Weise ergänzen und unterstützen.

Die Dimensionen der Zirkuspädagogik – Beispiele der Kompetenzbildung

Die Zirkuspädagogik ist in mehreren Dimensionen wirksam: von der physischen, psychischen, kognitiven bis hin zur gesellschaftlichen. In diesen Bereichen können sich in unterschiedlichen Entwicklungsprozessen vielseitige Fähigkeiten und Kompetenzen entfalten. So findet physisch die körperliche Entwicklung von Koordination, Kraft, Geschicklichkeit und Rhythmusgefühl statt. Psychisch wird die individuelle Entwicklung angeregt. Hier geht es um affektiv-emotionale Erfahrungen wie Selbstwahrnehmung und gestiegenes Selbstbewusstsein durch den
Stolz auf die eigene Leistung. In der kognitiven Dimension bilden sich durch das gemeinsame Trainieren und das Entwickeln von Shows zum einen Fähigkeiten wie Selbstdisziplin, Ausdauer, Konzentrationsvermögen, Verlässlichkeit und Verantwortungsbewusstsein aus, zum anderen wird die Kreativität und das Ästhetikempfinden gefördert. Außerdem erhöht sich die Frustrationstoleranz, da sich die Erkenntnis einstellen kann, dass anfängliches Scheitern an der selbstgestellten Aufgabe zum Trainingsprozess dazu gehört. Das gemeinsame künstlerische Schaffen ermöglicht die Erfahrung, nützlich und kompetent zu sein: Die gesellschaftliche Dimension meint unter anderem das Erleben von Teamarbeit und die damit einhergehende Entwicklung von sozialen Kompetenzen – jeder und jede findet seinen und ihren Platz, ist einzigartig und zugleich Teil eines Ganzen. Durch die notwendige Zusammenarbeit im Team werden Toleranz und Respekt ausgebildet sowie das Gefühl bestärkt, sich zugehörig zu einer Gruppe zu fühlen, akzeptiert zu werden und wiederum andere mit ihrer individuellen Persönlichkeit zu akzeptieren.
Seit einiger Zeit spielt die Zirkuspädagogik auch zunehmend eine Rolle in der heilpädagogischen und therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, da sie an individuelle Stärken und Interessen von Kindern anknüpft.

Zirkus als Kunstform

Die künstlerisch-kreative Gestaltung von Darbietungen, Szenen und Shows erfordert von den Teilnehmenden eine intensive Beschäftigung mit künstlerischen Aspekten. Zirkus als die Einheit von unterschiedlichen Kunstgenres bietet Raum für die Einbeziehung aller Kinder und Jugendlichen, unabhängig von zum Beispiel Herkunft und Sprachkenntnissen. Denn die Körperkunst des Zirkus funktioniert auch nonverbal.
Die Einbeziehung anderer künstlerischer Genres ist zwar ein Kennzeichen der gesamten Zirkuskunst, steht aber insbesondere im Zeitgenössischen Zirkus im Vordergrund. Im Kinderzirkus wird kaum mit Tieren gearbeitet, das unterscheidet ihn vom traditionellen Zirkus, entspricht aber der Charakteristik des Neuen bzw. Zeitgenössischen Zirkus. Viele Shows erzählen eine Geschichte und beziehen so in mehr oder weniger starkem Maße das Theater ein. Über die Gestaltung ihrer Darbietung hinaus können sich die Mitwirkenden mit der Gestaltung von Themen beschäftigen, die sie sich ausgewählt haben. Diese Motive können natürlich ganz unterschiedlich sein, häufig findet sich aber die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen und dem Finden ihres eigenen Weges. Die Zirkuspädagogik bietet somit auch für die Entwicklung eines gesellschaftlichen Bewusstseins zahlreiche Möglichkeiten.

Seit Jahrzehnten ist nun Zirkusmachen und die Zirkuspädagogik aus der Jugendkultur nicht mehr wegzudenken. So unterschiedlich die Kinder- und Jugendzirkusse auch sein mögen – für die Kinder und Jugendlichen bieten sie einen sicheren Ort, sich zu entfalten, Möglichkeiten der physischen, psychischen und sozialen Entwicklung wahrzunehmen und nicht zuletzt dabei viel Spaß zu haben. Es ist ein Spaß, der sich auch den Zuschauenden der Shows mitteilt, die bewundernd feststellen, was Kinder und Jugendliche zuwege bringen, wenn sie sich der Aufgabe des Zirkusmachens widmen.


Zur Person: Gisela Winkler ist – gemeinsam mit ihrem Ehemann Dietmar Winkler – Initiatorin und Leiterin eines der europaweit größten Archive für Zirkuskunst mit Sitz in Berlin. Das seit 50 Jahren bestehende Archiv sammelt und bewahrt Dokumente zur Geschichte von u. a. Artistik, Zirkus und Varieté mit dem Ziel, die Tradition des Zirkus zu bewahren und sie der Forschung zugänglich zu machen. Hierzu gehören ca. 10.000 Bücher, 2.000 Zeitschriften, 25.000 Fotos, 10.000 Programmhefte, Zeitungsausschnitte, Plakate, Videos, Souvenirs und Spielzeuge aus insgesamt über 50 Ländern. Gisela Winkler hat zahlreiche Bücher herausgegeben, u. a. „Die Geschichte der Artistik und des Zirkus“ sowie „Die Künste der Artistik“. Für ihr publizistisches Wirken für die Zirkuskunst wurde das Ehepaar Winkler mit dem Saltarino-Preis der Gesellschaft der Circusfreunde e.V. ausgezeichnet.