CABUWAZI
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Zirkus – ein kosmopolitischer Schutzraum im Nationalsozialismus

In diesem Blogartikel werfen wir einen Blick auf den Beitrag von Malte Gasche, Martin Holler, Paula Lee aus der Jubiläumsbroschüre Gemeinsam wachsen, die anlässlich des 30-jährigen Bestehens von Zirkus CABUWAZI veröffentlicht wurde.


Texte: Malte Gasche, Martin Holler, Paula Lee

Seit seiner Entstehung hat sich Zirkus stetig weiterentwickelt, Subgenres sind entstanden und der klassische Wanderzirkus, insbesondere die Tierdressur, ist in die Kritik geraten. Eines ist aber geblieben: Seit seinen Anfängen bis heute erweist sich der Zirkus mit all seinen Unterformen als Schutzraum und Zufluchtsort für Artist:innen.

Dr. Malte Gasche (Universität Helsinki) und M.A. Martin Holler (Universität Heidelberg) haben sich im Rahmen von „Forgotten Cosmopolitans – Diverging Fates of Europe‘s Circus People in the Wake of WWII“ und anderen internationalen Forschungsprojekten zur Zirkusgeschichte im 20. Jahrhundert mit Zirkus als multikulturellem Raum und Zufluchtsort während des Nationalsozialismus beschäftigt. Dabei sind sie auf Spurensuche nach persönlichen Lebenswegen von Artist:innen in dieser Zeit gegangen.

Im folgenden Beitrag geben sie Einblicke in ihre Forschungsergebnisse und stellen anhand ausgewählter Biografien die Schicksale von Zirkusschaffenden im Schatten von Krieg und Gewaltherrschaft vor. Diese Porträts ermöglichen ein neues Verständnis für die Lebensbedingungen und Sicherheitsstrategien von transnationalen Gruppen sowie marginalisierten Gemeinschaften und schaffen einen ganz neuen Zugang zur NS-Zeit.
Die Einzelschicksale nehmen die Lesenden mit auf eine fesselnde Reise der vergessenen Weltbürger:innen des Zirkus und zeigen ihre persönlichen Perspektiven vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei werden auch Fragen aufgegriffen, die heute ganz Europa betreffen – denn Flucht, Verfolgung und Rassismus sind für viele Menschen aktuelle Realitäten – und darüber muss gesprochen werden!

Die folgenden Texte waren bereits Teil einer Ausstellung, die 2022 in Zusammenarbeit zwischen CABUWAZI Altglienicke und der Projektgruppe um Dr. Malte Gasche entstand.

Zirkus als multikultureller Raum und Zufluchtsort für vulnerable Gruppen

Zirkusse waren in Europa stets populäre Formen der Unterhaltung. Jahrhundertelang wurden viele europäische Zirkusse von Angehörigen ethnischer Minderheiten (Sinti:zze und Rom:nja, Jüd:innen, Jenische u.a.) betrieben.
Die Artist:innen und Arbeiter:innen kamen aus der ganzen Welt und waren unterschiedlichster Herkunft, einschließlich Menschen mit körperlichen Behinderungen. Zirkusse stellten kosmopolitische Räume und schmale Pforten für die Akzeptanz des Andersseins dar. Daraus resultierte eine Solidaritätsgemeinschaft, die sich auch in Krisenzeiten bewährte.

Zirkus in der Zeit des Nationalsozialismus

Der Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft im Jahr 1933 brachte auch für die Zirkusgemeinschaft einschneidende Veränderungen mit sich. Dies betraf zuvorderst die ethnischen Minderheiten. Jüdische Artist:innen- und Zirkusfamilien wurden ihrer Geschäftsmöglichkeit beraubt und immer weiter ausgegrenzt. Nur wenige jüdische Zirkuskünstler:innen sollten das Martyrium in den Konzentrationslagern des Hitler-Regimes überleben.
Die aus der NS-Rassenideologie resultierenden Nürnberger Gesetze von 1935 wurden in einer Zusatzverordnung auch auf andere Minderheiten ausgeweitet. Dies betraf viele Zirkusfamilien mit Sinti:zze-Geschichte. Das Ausmaß der rassistisch motivierten Verfolgung reichte von polizeilich verfügtem Reise- und Berufsverbot bis zu Zwangssterilisation und Deportation in Konzentrations- und Vernichtungslager.
Ein Teil der aus rassistischen Gründen verfolgten Artist:innen überlebte durch die schützende Solidarität des Zirkusmilieus. Unter hohem persönlichem Risiko aller Beteiligten und Augenzeug:innen wurden Kolleg:innen vor Razzien gewarnt, versteckt gehalten, mit gefälschten Identitäten ausgestattet oder außer Landes gebracht. Ein prominentes Beispiel ist das Direktorenpaar Adolf und Maria Althoff, das die jüdische Artistin Irene Bento und einen Teil ihrer Familie von 1943 bis Kriegsende in seinem Zirkus versteckte.
Für ihren Mut wurden die Retterin und der Retter 1995 durch den Staat Israel mit dem Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet.

Ermöglicht wurden derartige Rettungstaten nicht zuletzt durch die Tatsache, dass der Zirkus im NS-Staat trotz anderslautenden ideologischen Anspruchs zu keiner Zeit eine deutsche bzw. „arische“ Monokultur war. Viele Artist:innen und Dresseur:innen, die innerhalb des deutschen Machtbereichs in Europa auftraten, kamen in dieser Zeit aus Ungarn, Italien, Spanien und anderen europäischen Ländern. Doch auch russische Reiter:innengruppen und Artist:innenfamilien asiatischer und afrikanischer Herkunft, die schon vor 1933 mit deutschen Zirkussen gereist waren, traten bis Kriegsende vor deutschem Publikum auf, wofür sie Sondergenehmigungen der Reichskulturkammer erhielten. In der Spätphase des Krieges ersetzten ferner ausländische Zwangsarbeiter:innen, hauptsächlich aus Osteuropa, deutsche Tierpfleger:innen, Techniker:innen und Zeltarbeiter:innen, die zum Wehrdienst eingezogen wurden.

Auch bei der eigenständigen Flucht ins Ausland hatten Zirkusleute aufgrund ihrer hohen Mobilität und internationalen Vernetzung weitaus bessere Karten als andere Geflüchtete und Exilant:innen. Die typischen Fluchtrouten führten nach Westeuropa, Skandinavien und auf den Balkan, aber auch bis nach Südamerika und Shanghai.

Fortgesetzte Tradition und neue Impulse

Die Nachkriegsbiografien der Überlebenden, die aus Lagern, Verstecken oder dem Exil zurückkehrten, waren von den Traumata der Verfolgungserfahrung und dem Verlust von Verwandten, Freund:innen und Kolleg:innen geprägt. Viele Rückkehrer:innen standen zudem in wirtschaftlicher Hinsicht buchstäblich vor dem Nichts. Auch in diesen Fällen warf die zirzensische Solidaritätsgemeinschaft ihre sozialen Rettungsanker aus. Wer körperlich oder seelisch nicht mehr in der Lage war, den Artist:innenberuf auszuüben, konnte meist dennoch in den Zirkus zurückkehren, sei es an der Kasse, im Büro oder als Tierpfleger:innen. In glücklicheren Fällen kam die artistische Karriere erst nach 1945 so richtig in die Gänge.

Seine Eigenschaft als solidarischer Schutzraum für vulnerable Gruppen hat der Zirkus bis heute bewahrt. Mit der Entstehung von Kinder- und Jugendzirkussen – und so auch bei CABUWAZI – hat sich seine integrative Dimension noch erweitert und zu einem gezielten Programm ausgeweitet, in welchem künstlerische und soziale Prozesse ineinanderwirken. Hierzu gehört auch die Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen, die bei CABUWAZI an die Standorte in Altglienicke, Hohenschönhausen und Tempelhof angebunden ist.

Vergessene Kosmopolit:innen – Menschen aus der Zirkuswelt und ihre Geschichten

 

Houssein ben Ibrik (ca. 1891–1980)
Ein marokkanischer Akrobat und Löwenbändiger im Visier der Nazis

Text: Paula Lee

Bild: Houssein ben Ibrik und Gertrude Appel,
undatiert, vermutlich 1935.
© Privatarchiv Paula Lee.

Houssein ben Ibrik wurde um 1891 als Sohn einer Nomadenfamilie im marokkanischen Marrakesch geboren. Schon in seiner Kindheit musste er mithelfen, die Karawane seiner Familie gegen Wüstenräuber zu verteidigen.
Als junger Mann schloss er sich einer arabischen Springertruppe an, bei deren Nummern er als Untermann bis zu zehn Kollegen auf den Schultern trug. Ein zweites Standbein war die Arbeit mit Raubkatzen, vornehmlich Löwen, aber auch Leoparden und Panthern. Hiervon trug er tiefe Narben davon, die er später gerne zu Reklamezwecken präsentierte.
Engagements der Truppe führten ihn schließlich zu Zirkusauftritten in Deutschland, anfangs bei Busch, ab 1934 bei Sarrasani. Dort verliebte er sich in die deutsche Musikantin Gertrude Appel, die im Zirkusorchester Violine spielte. Gertrude war einst aus ihrem Elternhaus in Zittau ausgerissen und hatte sich Sarrasani angeschlossen.
Die beiden heirateten und bekamen zwei Kinder, Fatima und Ali, die im Schatten der Nürnberger Gesetze aufwuchsen, auch wenn die Zugehörigkeit zum Zirkus einen gewissen Schutz bot.
Etwa 1941 wurde Houssein ben Ibrik unter ungeklärten Umständen festgenommen und bald darauf in ein Internierungslager nahe Bordeaux im besetzten Frankreich deportiert. Gertrude zog mit den Kindern nach Zittau, schaffte es aber, ihren Mann einmal im Lager zu besuchen. Es sollte jedoch ihr letztes Wiedersehen sein.
Kurz vor Ende des Krieges kam Gertrude bei einem alliierten Luftangriff ums Leben. Die Kinder überlebten und wurden nach dem Krieg aufgrund der Staatsbürgerschaft ihres vermissten Vaters nach Frankreich umgesiedelt. Erst Jahre später gelang es Houssein, der das Lager überlebt hatte und inzwischen als Mechaniker arbeitete, seine Kinder ausfindig zu machen.
Houssein ben Ibrik verstarb 1980.


Hugo Straßburger und Familie
Die verhängnisvolle Rückkehr aus Südamerika

Text: Martin Holler

Karoline, Adolph, Bella, Henriette und Hugo Straßburger, um 1925.
© Zirkusarchiv Winkler, Berlin.

Aufgrund der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten schloss sich Hugo Straßburger mit seiner Familie 1934 der zweijährigen Südamerika-Tournee des Zirkus Stosch-Sarrasani an, entschied sich jedoch trotz aller Warnungen gegen die Emigration.
Kurz nach der Rückkehr nach Deutschland im Mai 1936 musste er sich gegenüber der Gestapo verpflichten, unverzüglich auszuwandern. Ein Engagement beim Cirque Amar ermöglichte der Familie den Umzug ins französische Blois, während Bella den belgischen Clown Eugène Babusiau heiratete und nach Brüssel zog.
Zu Beginn des Krieges wurden Hugo und Adolph Straßburger durch die französische Polizei als „feindliche Ausländer“ festgenommen und in das Internierungslager Gurs eingewiesen. Während der Sohn nach der französischen Kapitulation freikam, blieb Hugo interniert und wurde Anfang August 1942 über Drancy in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert, wo er in den Gaskammern ermordet wurde. Im selben Jahr wurden Karoline und die Tochter Henriette in Blois festgenommen und später nach Auschwitz verschleppt, wo sich ihre Spur verliert.

Hugo Straßburger in Frankreich, undatiert.
© Zirkusarchiv Winkler, Berlin.

Adolph Straßburger entging durch Zufall seiner Festnahme und überlebte anschließend in wechselnden Verstecken, die ihm Shérif Amar organisierte. Nach dem Krieg blieb Adolph zunächst im Cirque Amar, ehe er 1951 in die Niederlande zog, wo sein Cousin Carl den Zirkus Straßburger leitete. Er starb 1974.


Gisela Nyman (*1934)
Eine Artistik-Karriere in Ost und West

Text: Malte Gasche

„Trio Splendid“ mit Gisela Nyman in der Mitte beim Spagat, circa 1950.
© Privatarchiv Gisela Nyman, Frankfurt am Main.

Gisela Nyman, geborene Blumenthal, war die Tochter eines jüdischen Vaters und einer nichtjüdischen Mutter.
Von klein auf erhielt Gisela Ballett- und Musikunterricht. Ihre halbjüdische Herkunft brachte ihr in der Schule keine Nachteile, doch war es schwer, Freundschaften zu schließen.
Giselas Vater Ernst, ein Obst- und Gemüsegroßhändler in der Leipziger Markthalle, wurde im Juni 1938 von der Gestapo festgenommen und verbrachte zehn Monate im Konzentrationslager Sachsenhausen. Im Oktober 1944 wurde er erneut verhaftet und Anfang 1945 in das Konzentrationslager Buchenwald überstellt, wo ihm bei einem Arbeitseinsatz die Flucht gelang. Er überlebte die Endphase des Krieges mit gefälschten Papieren. Giselas Großvater Abraham verstarb hingegen 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt.
Gisela überlebte zwei Bombenangriffe auf Leipzig nur knapp. Nach dem Krieg nahm sie Tanzunterricht und trat mit dreizehn Jahren der Rollschuhgruppe „Trio Splendid“ von Friedrich Kaufhold bei. Im Juli 1948 hatte sie ihren ersten Auftritt in der „Neuen Scala“ in Berlin. Als die Truppe ein Engagement in Essen annahm, gab sich Gisela als Tochter ihres Chefs aus, um in die britische Besatzungszone einreisen zu können. Fortan trat sie nur noch in Westdeutschland auf. 1951 folgte im norwegischen Oslo ihre erste Auslandssaison.
Ein schwerer Akrobatikunfall im September 1956 unterbrach Giselas Karriere für längere Zeit und zwang sie, auf das Trampolin umzusteigen. Während eines Engagements in Helsinki lernte sie den finnischen Rom Kalle Nyman kennen, der ihr eine Tanznummer mit einer zwölf Kilogramm schweren Pythonschlange beibrachte. Kalle und Gisela heirateten und zogen 1967 nach Frankfurt am Main, wo sie ihre artistische Arbeit fortsetzten.

Gisela Nyman mit ihrem Ehemann Kalle und einem Löwen, circa 1961.
© Privatarchiv Gisela Nyman, Frankfurt am Main.